Unser Fokus auf Gesichtsblind.de liegt auf der breiten gesellschaftlichen Aufklärung rund um Gesichtsblindheit (Prosopagnosie). Darüber hinaus werden wir hin und wieder auf andere Wahrnehmungsstörungen in unserem Blog aufmerksam machen. Das Thema Wahrnehmung wird in der Öffentlichkeit sehr wenig beachtet und wir wollen Abhilfe schaffen.
In dem berühmten Kinderbuch Alice im Wunderland erlebt die Romanfigur Alice ihren Körper und ihre Umgebung in merkwürdigen Größen. Der Körper ist zu groß, zu klein und hat seine Form verändert.
Eine Frau namens Gillian berichtet, dass sie dieses Phänomen seit der Kindheit hat: Es fing damit an, dass sie im Bett lag und es viel zu groß war. Sie dagegen war plötzlich viel zu klein. Außerdem konnte sie sich nicht bewegen. Ihre Mutter konnte sich keinen Reim darauf machen und hat vermutet, dass es ein Traum war.
Aber warum kam es dann so regelmäßig wieder und fühlte sich so real an?
Mit 16 wurde bei Gillian Epilepsie diagnostiziert, aber auf die visuellen Phänomene gab es weiterhin keine Antwort. Einmal hatte sie in der Schule während einer Klausur visuelle Wahrnehmungsstörungen und kam nur sehr knapp durch die Prüfung. Auch in anderen Situationen trat es auf: Die Arme waren plötzlich überdimensioniert und die Hände zu groß. Eine Tasse Tee zu greifen war nicht mehr möglich. Bei der Arbeit konnte sie plötzlich das Smartphone nicht mehr bedienen, weil die Finger in ihrer Wahrnehmung viel zu groß waren. Das passierte ausgerechnet dann, als der Chef ein Arbeitsergebnis von ihr sehen wollte. Zum Glück löste sich die Situation gerade noch rechtzeitig auf. Zum Glück löste sich die Situation gerade noch rechtzeitig auf.
In solchen Situationen normalisieren sich die Dinge meistens nach einigen Minuten wieder. In stressigen Situationen treten die Phänomene öfter auf als sonst.
Gillian versuchte, ihr Leben nicht davon beeinflussen zu lassen, und es blieb bei kleineren unangenehmen Situationen. Dennoch vermied sie es anderen Menschen davon zu erzählen: Manche glaubten, dass es Quatsch ist und nur ausgedacht war, einige lachten sogar darüber.
Was ist das Alice-im-Wunderland-Syndrom (AIWS)?
Betroffene des Alice-im-Wunderland-Syndroms (AIWS) erleben die Umgebung als verzerrt, wenn die Symptome auftreten. Das kann Panik und Ängste auslösen. Besonders die Körperwahrnehmung ist gestört und einzelne Gliedmaßen wirken extrem groß oder klein.
AIWS kann zudem weitere verzerrte Wahrnehmungen auslösen. So berichtet MaryAnn Mays (Neurologin an der Cleveland Clinic) davon, dass der Raum als flach (2-dimensional) gesehen wird oder sogar das Zeitempfinden langsamer bzw. schneller ist.
Halluzinationen und Derealisation (die äußere Welt erscheint unwirklich) gehören ebenfalls zum Spektrum der Symptome. Besonders häufig treten Symptome beim Einschlafen auf und meistens dauern sie nicht mehr als ein paar Minuten an.
Es scheint sich bei AIWS um ein seltenes Syndrom zu handeln, das bei Kindern häufiger auftritt. Ganz sicher ist das jedoch nicht. Denn es wird vermutet, dass Betroffene (besonders Erwachsene) häufig nicht darüber sprechen - aus Sorge vor Unverständnis.
Ursachen des Alice-im-Wunderland-Syndrom (AIWS)
Soweit bekannt, tritt das Alice-im-Wunderland-Syndrom nur als Folge einer bestehenden Grunderkrankung auf und nicht alleine. Wenn sich die Grunderkrankung bessert, lässt auch das AIWS nach.
Bisher ist nicht ganz klar, wodurch das AIWS ausgelöst wird. Einige wahrscheinliche Ursachen sind diese hier:
- Migräne
- Virusinfektionen
- Epilepsie
- Depression
- Schizophrenie
- Schlaganfälle, Hirntumore und Gehirnentzündungen
- Augenerkrankungen
- Nebeneffekte von Medikamenten oder Drogen
Migräne scheint dabei die häufigste Ursache zu sein. Laut Dr. Tim Jürgens (Klinik für Neurologie am KMG Klinikum Güstrow) wurde eine Umfrage unter Patienten einer Kopfschmerzambulanz durchgeführt. Dabei kam heraus, dass Patienten mit Migräne viel häufiger über eine veränderte Wahrnehmung der Körpergröße und des Körpergewichts berichteten.
Es gibt keinen Test für das Alice-im-Wunderland-Syndrom. Wenn Wahrnehmungsprobleme häufiger auftreten, sollte mit einem Arzt Rücksprache gehalten werden.
Gillian hat übrigens im Alter von 48 Jahren einen neuen Arzt gefunden. Zum ersten Mal wurde die Beschreibung der Symptome nicht abgetan, sondern ernst genommen. Ihr neuer Arzt vermutete sofort, dass es sich um das Alice-im-Wunderland-Syndrom handelt und möglicherweise in Zusammenhang mit ihrer Epilepsie steht: Eine große Erleichterung und Bestätigung, dass sie sich ihre seltsame Wahrnehmung nicht ausgedacht hat.