Bewältigungsstrategien bei Prosopagnosie (Gesichtsblindheit)
  Gesichtsblinde im Alltag unterstützen
  Erste Hilfe für gesichtsblinde Kinder

Gesichtsblindheit kann zu großen Herausforderungen im Alltag führen. Jemanden nicht zu erkennen wird schnell als Desinteresse, Arroganz oder Verträumtheit gewertet. Aufklärung und Offenheit sind zwar der Schlüssel, aber nicht immer einfach umzusetzen.

Erstens wissen Betroffene nicht immer davon, dass es so etwas wie Gesichtsblindheit überhaupt gibt. Außerdem ist das Outing oft eine emotionale Hürde und zwingt eine gesichtsblinde Person, die eigene Schwäche zu offenbaren.

Das Erkennen von Gesichtern hat überall einen sehr hohen Stellenwert und niemand will als unhöflich, abweisend oder arrogant rüberkommen. Deshalb kann Gesichtsblindheit mit einem starken Schamgefühl einhergehen, das erst einmal überwunden werden muss.

Wieder andere trauen sich im beruflichen Umfeld nicht, sich als gesichtsblind zu bekennen, weil sie Nachteile befürchten.

Sich offen als gesichtsblind zu outen und darüber aufzuklären ist trotzdem die vielversprechendste Strategie.
Deshalb ist sie weiter unten direkt als Erstes genannt.
Gesichtsblind.de will einen Beitrag dazu leisten, dass möglichst alle Betroffenen zu ihrer Veranlagung stehen können (siehe Vision).

Strategien im Alltag für Gesichtsblinde

Bewältigungsstrategien bei Prosopagnosie (Gesichtsblindheit)

Gesichtsblinde entwickeln verschiedenste Methoden und Bewältigungsstrategien, um im Alltag zu bestehen. Keine dieser Strategien ist jedoch vollkommen. Es gibt nichts, das in allen Situationen funktioniert.

Die Auflistung ist natürlich nicht vollständig. Wenn du weitere hilfreiche Strategien kennst und teilen möchtest, nimm mit uns Kontakt auf.

  Sich als gesichtsblind outen

Das ist die einzige Strategie im Umgang mit der Gesichtsblindheit, die wirklich zu 100 % funktioniert. Es kann aber einiges an Überwindung kosten, je nachdem in welchem Umfeld man davon erzählen will. Schließlich offenbart man eine sehr persönliche Schwäche.

Ist das bei dir der Fall? Dann kann es helfen, einen Aufhänger zu haben, um davon zu erzählen.

Du könntest beispielsweise auf einen Artikel verweisen, den du kürzlich gelesen hast: “Ich habe letztens zufällig einen Artikel über eine Wahrnehmungsschwäche gelesen, bei der man sich Gesichter nur sehr schwer merken kann. Ich vermute, dass ich das auch habe.”.

Es ergeben sich manchmal andere passende Gelegenheiten. Du kennst es bestimmt: Hin und wieder erzählt jemand, wie schlecht er oder sie sich Namen merken kann. Meistens stimmen dann sofort alle Umstehenden zu. Der perfekte Moment, um einzuhaken und zu berichten, dass man das gleiche Problem auch hat - nur eben mit Gesichtern.

  Alle grüßen

Wahrscheinlich machst du das schon längst genau so. Wenn du im Hausflur oder nahe der Eingangstür zum Wohnhaus bist, ist es am einfachsten, alle zu grüßen, auf die du triffst.

Das gleiche Vorgehen funktioniert am Arbeitsplatz oder an anderen Orten, an denen du dich regelmäßig aufhältst. Durch freundliches Grüßen fällt es der anderen Person meistens nicht auf, ob du sie erkennst oder nicht.

Es kann vorkommen, dass du dieselbe Person 2- oder 3-mal am gleichen Ort grüßt (z. B. einmal vor der Tür und später noch einmal im Gebäude, falls du sie dir nicht merken konntest). Das ist aber nicht so schlimm und fällt meistens nicht auf.

  Auf verschiedene Merkmale achten

Wer gesichtsblind ist, nutzt viele Erkennungsmerkmale und merkt sich eher den Menschen als Ganzes.

Frisur, Kleidung und die Statur werden häufig genutzt. Es kann aber auch ein auffälliges Merkmal im Gesicht sein, auffälliger Schmuck oder die Tönung der Haut. Manche Gesichtsblinde sind übrigens sehr gut darin, andere Personen am Gang zu erkennen.

Kinder zu erkennen kann sogar noch herausfordernder sein, weil diese sich optisch schneller ändern.

Erste Hilfe leistet oft die Stimme. Sobald ein Gespräch beginnt und das Erkennen des Gegenübers noch nicht geklappt hat, ist die Stimme daher ein weiteres wichtiges Merkmal.

  Notizen machen

Einigen hilft es, sich Notizen über das Aussehen anderer Menschen zu machen und sich dadurch die Merkmale schneller einzuprägen. Besonders bei wechselnden Kollegen oder Kontakten am Arbeitsplatz kann das helfen, ebenso wie im pädagogischen Bereich.

  Geschickten Smalltalk üben

Manchmal kommst du in Situationen, in denen du dich mit jemandem unterhältst und nicht weißt, wer die andere Person überhaupt ist - außer vielleicht, dass du sie kennen müsstest. Die äußeren Merkmale der Person reichen jedoch für ein erfolgreiches Erkennen nicht aus.

Ein guter Tipp ist daher, sich im Smalltalk zu üben und viele Infos in offenen Fragen herauszufinden, etwa so: “Auf der Arbeit war es heute ganz schön stressig. Wie läuft’s bei dir, alles gut?”.

An der Antwort bekommst du häufig weitere Infos über die andere Person und das hilft ungemein beim erfolgreichen identifizieren.

Was erzählt die andere Person über ihre Arbeit? Kommt dein Gegenüber gerade aus dem Büro, aus dem Pflegeheim oder ist auf Jobsuche? Oft reicht schon eine Zusatzinfo zu den optischen Merkmalen und du kannst dein Gegenüber zuordnen und erkennen. Es ist wie ein kleines Detektivspiel.

Es kommt außerdem immer sympathisch rüber, Fragen an dein Gegenüber zu stellen und Interesse zu haben. Dadurch wird das Nicht-Erkennen und Vorbeilaufen in einer anderen Situation eher “verziehen”.

Fühlst du dich in Smalltalk Situationen nicht wohl? Keine Problem. Mit ein bisschen Übung wirst auch du selbstsicherer (mehr dazu in Kürze).

  Offenheit gegenüber anderen

Siehe Punkt “Geschickten Smalltalk üben”. Wenn du als offen und freundlichen rüber kommst, wird es eher akzeptiert, dass du manchmal “in Gedanken” an jemanden vorbeiläufst und nicht grüßt.

  Namen vermeiden

Es kann vorkommen, dass du das Gefühl hast, die andere Person erkannt zu haben. Im Gespräch merkst du dann aber, dass es doch jemand ganz anderes ist.

Deshalb: Wenn du dir nicht ganz sicher bist, solltest du die andere Person nicht direkt zur Begrüßung mit Namen ansprechen. So kannst du Fettnäpfchen vermeiden.

  Zeit und Ort für ein Treffen bestimmen

Unangenehm werden Situationen oft dann, wenn du dich mit anderen triffst, die nur schlecht wiedererkennen kannst und der Treffpunkt unklar ist. Es ist sehr stressig, nur einen ungefähren Ort zu vereinbaren, an dem man sich dann treffen soll. Am besten ist es, immer einen exakten Treffpunkt und eine genaue Uhrzeit zu vereinbaren.

  Immer früh zu einem Treffen erscheinen

Es ist hilfreich, zu einem Treffpunkt etwas früher als verabredet zu erscheinen. So kann man sich am vereinbarten Ort hinstellen und sich finden lassen. Damit lassen sich Schwierigkeiten, jemanden zu erkennen, viel einfacher umgehen.

  Smartphone direkt vor einem Treffen nutzen

Das Smartphone ist ein guter Helfer. Wenn du nicht sicher bist, ob du die Person sofort erkennst, aber über dein Smartphone Kontakt hast, kannst du kurz Bescheid geben: “Hi, ich bin schon da und warte direkt vor dem Café auf dich”. Dadurch machst du es dir etwas leichter und deine Verabredung hat nun die Aufgabe, dich zu finden.

Ähnlich funktioniert es, wenn du dich etwas verspätest. Wenn du bereits auf den verabredeten Ort zugehst und in Sichtweite bist, kannst du kurz bei deiner Verabredung durchklingeln und sagen, dass du fast da bist. Oft sieht dich die andere Person dann schon und winkt dir zu.

  Aufmerksam sein

Bist du an einem Ort, an dem öfter Leute kommen oder gehen? Es könnte das Büro sein, eine Party oder der Spielplatz mit dem Nachwuchs. Aufmerksames Beobachten ist in diesem Fall sehr hilfreich. Wer kommt hinzu und wer geht? Kommt jemand hinzu und wird mit Namen angesprochen und begrüßt? Oftmals kannst du dir so ein Bild machen, bekannte Personen identifizieren und dann gezielt ansprechen.

  Sonnenbrillen helfen nicht nur gegen Sonne

Eine Schwierigkeit ist es, Leute zu erkennen, die einem in der Nachbarschaft auf der Straße entgegenkommen. Stressig ist es ganz besonders dann, wenn man viele lockere Bekanntschaften in seinem nahen örtlichen Umfeld hat.

Nun kannst du die Personen, die dir entgegenkommen, nicht zu lange betrachten. Das wäre zwar hilfreich, um genauer auf bestimmte Merkmale und das Verhalten zu achten, aber es würde natürlich sehr unhöflich wirken.

Besonders unangenehm wird es, wenn du eine eigentlich bekannte Person direkt anguckst und sie es merkt, du sie aber nicht erkennen kannst (und deshalb nicht grüßt).

Falls du in diesem Fall rechtzeitig begrüßt wirst, kannst du natürlich einfach zurückgrüßen. Die Situation entspannt sich.

Wenn aber der oder die andere ebenfalls nicht grüßt, kann es unangenehm werden: Die Erfahrung lehrt leider, dass man mit Gesichtsblindheit oft unfair behandelt wird und das Nicht-Grüßen einseitig auf die gesichtsblinde Person zurückfällt.

Deshalb ist es manchmal besser, einfach “abwesend” geradeaus oder woanders hinzugucken.

Mit einer Sonnenbrille jedoch kannst du ein oder zwei Sekunden länger eine Person angucken, ohne dass es auffällt. Zudem hilft die zusätzliche Zeit, um stärker darauf zu achten, ob sie in deine Richtung grüßt, nickt oder lächelt. Im Zweifel kannst du dann einfach auf gut Glück grüßen.

Gesichtsblinde im Alltag unterstützen

Du bist nicht gesichtsblind, kennst aber gesichtsblinde Personen aus deinem Umfeld?
Falls es manchmal zu Schwierigkeiten kommt, du nicht erkannt wirst oder dein Gegenüber sich unsicher fühlt, kannst du selbst aktiv werden.
Mit diesen Tipps hilfst du Gesichtsblinden dabei, dich zu erkennen, wenn es drauf ankommt:

  • Gehe zuerst auf die Person zu und warte nicht, dass du gegrüßt wirst. Sprich dein Gegenüber deutlich an, denn häufig können Gesichtsblinde jemanden viel besser über die Stimme identifizieren.
  • Ganz besonders, wenn es um ein erstes Treffen geht oder ihr euch an einem unerwarteten Ort trefft, kannst du dein Gegenüber noch deutlicher ansprechen: Sag zur Begrüßung einfach deinen Namen ("Hallo, ich bin XY"), damit es gar nicht erst zu Verwechslungen kommen kann.
  • Trefft ihr euch an einem Ort, an dem viele Menschen unterwegs sind? Damit das Erkennen leichter wird, kannst du vorher mitteilen, welche Kleidung du trägst - je auffälliger umso besser
  • Bei Gruppentreffen helfen Namensschilder - ganz besonders bei größeren Gruppen oder wenn häufiger neue Teilnehmer hinzukommen.
  • Ärgere dich nicht, wenn du nicht erkannt oder gegrüßt wirst. Es ist keine Absicht und keine Arroganz. Das gegenseitige Grüßen hat einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert. Es ist deshalb umso wichtiger, zu erklären und zu verstehen, warum manche Menschen sich nicht immer daran halten können.

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