Sind jetzt alle neurodivers?


Ich habe letztens einen Vortrag über Autismus gehört - eine Welt, die mir noch ziemlich verschlossen ist.

Das war nicht nur sehr spannend, sondern eine kurze Erwähnung ist hängen geblieben, die gar nichts mit Autismus zu tun hat: Der Vortragende sprach über eine Freundin von ihm, die Dyskalkulie hat. Diese Veranlagung wird manchmal als Rechenschwäche bezeichnet und die besagte Person kann nur mit ganzen Zahlen von 1 bis 10 umgehen. Ich kenne mich mit Dyskalkulie nicht aus, aber vermutlich ist das eine schwerere Form davon.

Die erwähnte Frau ist im Job (der nichts mit Zahlen zu tun hat) übrigens erfolgreich und hat viele Stärken. Aber trotzdem weiß außer einer Person niemand aus ihrem Umfeld über ihre Dyskalkulie Bescheid!

Zu sehr ist das Thema für sie emotional belastet. Liegt es an der Scham, darüber zu sprechen? Oder an der Sorge vor Nachteilen?

Das muss schon in der Schule extrem hart gewesen sein, da die Schule Abweichungen von der angeblichen Norm kaum vorsieht.

Aus meinem persönlichen Umfeld habe ich von einem Autisten mitbekommen, dass bei der Arbeit niemand etwas von seinem Autismus weiß - obwohl einige Verhaltensweisen in dem Fall recht auffällig sind. Viele gesichtsblinde Menschen trauen sich ja ebenfalls nicht, offen mit der Veranlagung umzugehen. Bei mir war es sehr lange Jahre ebenfalls so und selbst heute noch ist die Scham nicht komplett weg (Beispiel: Nachbarschaft).

Es ist schon sehr krass, wie sich die Schambelastung durch so viele Menschen unterschiedlichster Veranlagungen zieht. Dieses Versteckspiel führt zu ständigem Stress und zerrt an den eigenen Ressourcen.

Die große Klammer: Was ist denn Neurodiversität?

Es gibt so viele neurologische Veranlagungen, die versteckt werden und im Verborgenen schlummern. Dafür gibt es einen knackigen Begriff, der die verschiedenen Ausprägungen umfasst - und zwar Neurodiversität. Ganz allgemein bedeutet Neurodiversität neurologische Vielfalt.

Und ja, alle Menschen sind neurodivers.

Denn jeder hat unterschiedliche neurologische Ausprägungen und niemand entspricht zu 100 % der medizinischen und psychologisch definierten Norm. Zudem wandelt sich über die Zeit, was als "normal" gilt. Meistens wird jedoch von Neurodiversität gesprochen, wenn es um Menschen geht, die in bestimmten Ausprägungen (in der Wahrnehmung, in der Verarbeitung von Informationen usw.) starke Abweichungen von der Norm aufweisen.

Neurodiversität ist ein Spektrum und lässt sich nicht klar definieren oder abgrenzen. Übrigens: Personen, die sich im Spektrum der Neurodiversität verorten, werden als neurodivergent bezeichnet.

Neurodiversität als Schlüssel für gesellschaftlichen Umbruch

Ich beschäftige mich erst seit Kurzem mit Neurodiversität und den verschiedenen Ausprägungen, die es so gibt. Spannend: Seitdem bekomme ich weitaus mehr Kontakte zu anderen Menschen unterschiedlicher Veranlagung. Das Thema Gesichtsblindheit (Prosopagnosie) kann ich dadurch viel leichter ansprechen und bekannter machen. Das erscheint mir ein viel größerer Hebel zu sein, als sich nur auf Gesichtsblindheit zu konzentrieren.

Ist es nicht an der Zeit, die Kräfte zu bündeln und gemeinsam für mehr Bekanntheit und Aufklärung zu sorgen?

Die Scham und Angst, die viele davon abhält, mit ihren neurologischen Ausprägungen offener umzugehen, ist wie eine große Mauer.

Gemeinsam lässt sie sich schneller einreißen.