Wie offen umgehen mit Prosopagnosie?


Die Autorin dieses Erfahrungsberichts möchte anonym bleiben.

Mit Gesichtsblindheit zu leben, bedeutet schon öfters mal eine kleine oder — bei starker Ausprägung — auch größere Herausforderung. Die meisten Menschen mit Prosopagnosie haben Strategien gefunden, um mit ihrer besonderen Veranlagung gut durch den Alltag zu kommen.

Sich zu „outen“, ist eine der umfassendsten Strategien.

Dazu muss man natürlich erstmal wissen, dass man gesichtsblind ist — ich zum Beispiel als Betroffene wusste jahrzehntelang gar nicht, dass es dafür einen Namen gibt und ich nicht die Einzige bin, die sich „keine Gesichter merken kann“. Und man muss den Mut und die „Nerven“ haben, das offen zu kommunizieren. Diese Kraft hat man nicht immer, auch nicht in jeder Situation. Und wenn zur Gesichtsblindheit noch andere besondere neurodiverse Veranlagungen hinzukommen, wie beispielsweise in meinem Fall HSP — Hochsensibilität —, ist es manchmal eine kaum zu bewältigende Herausforderung, sich als Prosopagnostiker zu outen.

Trotzdem ist es eine gute Sache, darüber nachzudenken, ob man sich mehr öffnet, vielleicht schrittweise und je nach Situation, und andere, „Fremde“, über die eigene Gesichtsblindheit informiert.

Die Fallstricke bei versteckter Prosopagnosie

Denn versteckte Prosopagnosie bringt etliche Nachteile mit sich. Nicht nur peinliche Situationen, in denen man seinen Mitmenschen schrullig und „seltsam“ vorkommt. Nicht nur, dass man als arrogant und unhöflich wahrgenommen werden kann, weil man Leute einfach „übersieht“. Nicht nur, dass man selbst Frust erlebt wie beim Filmeschauen, wenn man mal wieder nicht mitkommt bei der Handlung, weil man die Darsteller nicht auseinanderhalten kann.

Die Nachteile reichen tiefer …

Wenn ich jemanden nicht wiedererkenne, bleiben die Beziehungen zu dieser Person im besten Fall locker (z. B. zu Nachbarn, die ich nur freundlich zurückgrüße, weil ich sie nicht einordnen kann).

Im traurigerem Fall entgeht mir und der anderen Person die Chance auf eine bereichernde, tiefere, engere mitmenschliche Beziehung. Denn wenn ich jemanden nicht wiedererkenne, weiß ich natürlich auch nicht, dass DAS die Person ist, mit der ich beispielsweise schon einmal ein interessantes Gespräch hatte; ein Thema habe, das uns beide verbindet; in einer Situation bin, die wir teilen; Gedanken und Gefühle da sind, die wir ausgetauscht haben und es sich lohnen würden, das fortzusetzen. Wenn ich Menschen nicht wiedererkenne, bleiben die Beziehungen zwangsläufig oberflächlicher, weil ich ganz einfach nicht an das anknüpfen kann, was uns bereits verbindet durch vorherige Begegnungen. Ich setze sozusagen jedesmal wieder bei Null an, wenn sich für mich nicht zufällig klärt, wer der/die andere ist.

Natürlich kann ich geschickt Small Talk halten mit mir vermeintlich Fremden, oft sogar, ohne dass diese bemerken, dass ich sie nicht wiedererkenne. Aber die zahlreicheren und fördernden sozialen und persönlichen Verbindungen, die Nicht-Gesichtsblinde in der Regel automatisch knüpfen, bleiben vielleicht aus oder erreichen nicht die Intensität, die normalerweise da sein könnte.

Das kann sich auf alles beziehen, was das Leben bereichert. Freundeskreis, Interessen, Hobbys, soziales Engagement, aber auch berufliches Fortkommen — verborgen gehaltene Prosopagnosie schränkt die Entfaltung des eigenen Potentials unter Umständen mehr ein, als es dem Betroffenen selbst bewusst ist.

Nun bin ich selbst „nur“ ein „mittelschwerer Fall“, habe Prosopagnosie im oberen Bereich des mittleren Spektrums. Ich erkenne meinen Mann, meine Familie, enge Freunde und Menschen, zu denen ich eine wie auch immer geartete engere (emotionale) Bindung habe. Schon bei vielen Nachbarn wird es aber kritisch mit dem Wiedererkennen, und bei etwas entfernteren Bekannten habe ich ganz wenig Chancen. Wenn ich diese Menschen auch noch außerhalb des für mich gewohnten Umfeldes treffe, sind es völlig Fremde für mich. Ich komme an sich ganz gut zurecht, von den üblichen peinlichen und nervigen Situationen abgesehen, die wohl so ziemlich alle Betroffenen kennen. Und ich habe zum Glück auch einen lieben Mann, der mich ab und zu „rettet“ und mir sagt, wer da jetzt auf der Straße auf uns zukommt.

Trotzdem fühle ich mich zunehmend unbehaglich, wenn Situationen des Nicht-Erkennens sich gerade mal wieder häufen, wie das in letzter Zeit öfters vorkam. Ich fühle mich in meinem Potential eingeschränkt und als Person falsch wahrgenommen und habe das Gefühl, dass die Prosopagnosie mir doch qualitative Defizite verursacht in meinem Leben.

Prosopagnosie? Ein bisschen "exotisch"

Also hilft nur die Flucht nach vorne. Meine Unzufriedenheit mit der Situation gibt mir vielleicht doch stärker die Motivation, mich noch öfters zu „outen“ als bisher, wenn es sich im Gespräch anbietet.

Interesse von anderen ist fast immer da, wenn ich offen damit umgehe. Für Nicht-Gesichtsblinde ist das Thema Prosopagnosie oft neu, verblüffend und ein bisschen „exotisch“. Die wenigsten wissen genauer, was das ist und was sie sich darunter vorstellen müssen.

Wenn es dann sogar kreativ aufgegriffen wird und damit ein bisschen mehr in die Öffentlichkeit getragen wird, kann man das als kleinen Erfolg verbuchen, finde ich. Gerade die Tage habe ich mit einer Autorenkollegin darüber gesprochen, die ganz fasziniert war und meinte: „Das ist ja ein toller Plot für einen Krimi!“ Damit ist sie nicht ganz die Erste und hat natürlich Recht — und spannend bleibt es mit unserer besonderen Veranlagung auf jeden Fall!

Aber egal, ob outen oder nicht, am wichtigsten ist, dass man sich selbst wohlfühlt mit der Weise, in der man mit der eigenen Prosopagnosie umgeht. Wenn das gute Gefühl damit nicht mehr da ist, stehen meist doch einige Möglichkeiten zur Veränderung offen. Das gilt nicht nur für Gesichtsblindheit.

Websites wie diese hier und die engagierten Menschen, die als Betreiber dahinterstehen, empfinde ich als große Unterstützung, um ein bisschen freier und entspannter mit der Gesichtsblindheit umzugehen. Denn jede Information mehr ist wichtig für Prosopagnostiker, ihre Familien und Freunde. Seitdem ich hier mitlese, habe ich dementsprechend viele neue Einsichten gewonnen. Und vielleicht bin ich irgendwann auch mutig genug, mich sogar im „weltweiten Netz“ öffentlich als gesichtsblind zu outen.

Herzliche Grüße von einer, die sich noch nicht ganz traut, aber schau‘n wir mal … wohin der Weg so führt.