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Für Gesichtsblinde ist es ideal, wenn jemand anderes einem die Namen von bekannten Personen zuflüstert, die einem auf der Straße oder auf Veranstaltungen begegnen.
Im Alten Rom gab es tatsächlich einen besonderen Diener, der diese Aufgabe übernommen hat, der Nomenclator. Er war dafür zuständig, sich Namen und Gesichter zu merken und seinen Herrn bei Begegnungen über die andere Person zu informieren. So konnte sein Herr alle Personen höflich und zuvorkommend ansprechen.
Wer nicht zur kleinen Oberschicht gehörte, musste sich alleine behelfen.
In Gesellschaften mit starken sozialen Hierarchien eine umso größere Herausforderung.
Allerdings haben viel mehr Menschen in früheren Zeiten in dörflichen Strukturen mit festen sozialen Gruppen gelebt. Das mag ein Leben mit Gesichtsblindheit erleichtert haben.
Andererseits gab es keinerlei Wissen über diese Veranlagung, kein Wort dafür (zumindest wurde nichts überliefert). Moderne Kommunikationsmittel, die in manchen Situationen den Umgang mit Gesichtsblindheit erleichtern, fehlten und in einem Umfeld mit starken sozialen Hierarchien konnte und kann es schlimme Konsequenzen haben, höherstehende Personen nicht zu erkennen und angemessen zu grüßen.
Erste Erwähnungen von Gesichtsblindheit - lange bevor es medizinisch überhaupt bekannt war
In einem Artikel auf spektrum.de (der sich wiederum auf diesen Blog bezieht) wird Folgendes nacherzählt. Es geht um eine Buchreihe namens “Anne of the Three Gables”. Im Jahr 1936 erschien das vierte Buch der Reihe und dort berichtet die trauernde Figur eines Vaters in Gedanken an seinen verstorbenen Sohn anschaulich über seine Probleme, Gesichter zu erkennen:
„Sie können nicht wissen, was das für mich bedeutet“, sagte er schließlich gebrochen. „Ich hatte kein Foto von ihm. Und ich bin nicht wie andere … Ich kann mir kein Gesicht merken … Ich sehe keine Gesichter vor meinem geistigen Auge, wie die meisten anderen Leute. Es war furchtbar, seit der kleine Mann starb. Ich konnte mich einfach nicht erinnern, wie er ausgesehen hat.“
Der Fachbegriff Prosopagnosie existierte zu der Zeit noch nicht. Es muss somit schon lange bevor dazu irgendetwas erforscht wurde, Menschen gegeben haben, die eine Ahnung davon hatten, dass nicht alle dazu in der Lage sind, Gesichter wiederzuerkennen und sich vorzustellen.
Im oben erwähnten Artikel werden außerdem Anekdoten über Robert Gascoyne-Cecil berichtet, der zwischen 1885 und 1902 britischer Premierminister war. Er ist ein großartiges Beispiel eines Gesichtsblinden, der es in eine so hohe öffentliche Stellung geschafft hat:
„Er fand es schwierig, seine Mitmenschen zu erkennen, sogar seine Verwandten, wenn er sie unter unerwarteten Umständen traf. Einst stand er hinter dem Thron bei einer Hofzeremonie, als er einen jungen Mann sah, der ihn anlächelte. „Wer ist mein junger Freund?“, flüsterte er seinem Nachbarn zu. „Euer ältester Sohn“, antwortete der Nachbar.”
Du vermutest, dass du gesichtsblind sein könntest und möchtest dich selbst einschätzen? Hier gehts zu unserem Online-Test Gesichtsblindheit
Kurzer Rückblick zur Forschung über Prosopagnosie
Die meisten Einträge zur Historie stammen von faceblind.org.uk, die sich wiederum an dem Buch “Mind’s Eye” des Neurologen Oliver Sacks orientieren. Einige Einträge zur jüngeren Geschichte wurden zudem von uns ergänzt.
- In den 1790er Jahren stellte der deutsche Arzt Franz Joseph Gall die These auf, dass die geistigen Funktionen aus dem Gehirn anstatt aus der Seele, dem Herzen oder der Leber stammen.
- 1865 stellte Paul Broca (französischer Anatom und Chirurg) fest, dass bestimmte Bereiche des Gehirns mit bestimmten neurologischen und kognitiven Funktionen verbunden sind.
- 1872 beschrieb Hughlings Jackson (britischer Neurologe) einen klinischen Fall spezifischer visueller Agnosie für Gesichter und Orte.
- 1947 prägte der deutsche Neurologe Joachim Bodamer den Begriff „Prosopagnosie“ („prosopon“ - Gesicht und „agnosie“ - nicht erkennen). Er beschrieb drei Patienten, die Schwierigkeiten beim Erkennen von Gesichtern hatten – die Folge einer Kopfverletzung (erworbene Prosopagnosie).
- 1955 dokumentierte der englische Neurologe Christopher Pallis die Erfahrungen eines Patienten (aufgezeichnet in einem Tagebuch), der nach einem Schlaganfall von Prosopagnosie betroffen war.
- 1980er Jahre: Die Einführung von CT- und MRT-Scans bestätigte frühere Autopsiebefunde, die Schäden im „fusiformen Gesichtsareal“ des Gehirns bei Personen mit erworbener Prosopagnosie aufwiesen.
- 1985 veröffentlichte der Neurologe Oliver Sacks sein bekanntes Buch „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“, in dem ein Fall von Gesichtsblindheit und viele weitere neurologische Fälle anschaulich beschrieben werden.
- In den 1990er Jahren wurde die entwicklungsbedingte (und angeborene bzw. kongenitale) Prosopagnosie erstmals als ein spezifisches neurologisches Defizit erkannt, das seit der Kindheit besteht und häufig bei mehreren Mitgliedern derselben Familie auftritt.
- 1999 begannen Brad Duchaine und Ken Nakayama im Internet nach Personen zu suchen, die schon seit längerem Schwierigkeiten mit der Gesichtserkennung hatten (siehe faceblind.org). Von diesem Zeitpunkt an hat sich die Forschung kontinuierlich weiterentwickelt und verbreitet.
- Im deutschsprachigen Raum beschäftigen sich das Ehepaar Martina Grüter und Thomas Grüter seit den 2000er Jahren mit der Erforschung der Prosopagnosie, u. A. mit kongenitaler (angeborener und vererbbarer) Prosopagnosie und Diagnostik. Die ersten Medienberichte erscheinen. Inzwischen forschen einige Unis und weitere Personen in den deutschsprachigen Ländern zu dem Thema.
- Gesichtsblindheit ist ein globales Phänomen: Auch wenn die Forschung zu Beginn vor allem in Europa und den USA vorangetrieben wurde, kommt diese Veranlagung weltweit vor, wie eine Studie aus Indien (2006) belegt.
- Prosopagnosie wird 2014 vom britischen Gesundheitsdienst NHS offiziell anerkannt. Es wird darauf hingewiesen, dass Gesichtsblindheit soziale Ängste und Depression verursachen kann.
- In 2023 wird ein Fall erworbener Prosopagnosie bekannt, der als Folge von Long Covid aufgetreten ist (siehe Publikation von Marie-Luise Kieseler)
Berühmte gesichtsblinde Personen
Hier eine kurze Liste international und regional berühmter Personen, die gesichtsblind sind. Kennst du noch andere, die fehlen? Schreibe uns und wir ergänzen die Auflistung.
- Brad Pitt (US-Schauspieler … die wohl bekannteste Person auf der Liste)
- Jane Goodall (britische Primatenforscherin)
- Robert Gascoyne-Cecil (1885 - 1902 britischer Premierminister)
- John Hickenlooper (2011 - 2019 Gouverneur von Colorado)
- Victoria von Schweden (schwedische Kronprinzessin, hat neben Gesichtsblindheit auch noch Dyslexie)
- Steve Wozniak (Apple Mitbegründer)
- Oliver Sacks (britischer Neurologe und Autor)
- Shenaz Treasury (indische Schauspielerin)
- Oh Jung-se (koreanischer Schauspieler)
- Chuck Close (US-amerikanischer Maler)
- Duncan Bannatyne (schottischer Unternehmer)
- Markos Moulitsas (Begründer des reichweitenstarken US-Blog “Daily Kos”)
- Mary Ann Sieghart (englische Journalistin, frühere stellv. Herausgeberin der Times, Radiomoderatorin)
- Heather Sellers (US-Autorin)
- Karl Kruszelnicki (australischer TV-Moderator)
Bisher sind keine berühmten gesichtsblinden Persönlichkeiten aus dem deutschsprachigen Raum bekannt. Es gibt zwar bestimmt welche, aber anscheinend trauen sie sich noch nicht.
Wir wollen, dass sich das ändert und mehr Betroffene zu ihrer Veranlagung stehen können!