Erfahrungsbericht: Sehbehindert und gesichtsblind

Der Beitrag wurde von Walter Grimm geschrieben. Mehr Infos zu ihm findest du auf seiner Webseite.


Ich bin 58 und seit 4 Tagen gesichtsblind! Nein, nicht erst seit 4 Tagen, sondern schon mein ganzes Leben lang, aber seit 4 Tagen weiß ich es und es fühlt sich so an, als sei ein Großteil der gelesenen Erfahrungsberichte von mir geschrieben!

Ich bin ursprünglich extrem kurzsichtig (-13,5 Dioptrien), habe aber durch Star-OP eine Brille mit nur noch -1,75 Dioptrien. Nun, das Sehen wurde nach der OP besser, schon alleine, weil der zusätzliche graue Star weg war. Aber die Sehbehinderung blieb. Wobei nicht die Kurzsichtigkeit an sich das Schlimmste ist, sondern ein permanentes linksseitiges Auswärtsschielen, welches mir eine Stellung als Außenseiter und Mobbing - Opfer von Geburt an sicherte. Leute fühlen sich belästigt, wenn mein inaktives linkes Auge auf sie schaut, obwohl ich in Wirklichkeit in eine andere Richtung gucke. Andere Menschen freuen sich und finden es höchst unterhaltsam, wenn sie mich dabei ertappen, dass ich etwas oder jemanden nicht sehe. Damit ist mal wieder die Grundlage für einen hirnlosen Spruch gelegt. Bittschön, gern geschehen... Ar...ähm angenehmen Tag noch.

Abwertung schon im Kindesalter

Zudem wurde ich in meiner Umgebung als unkonzentriert, faul, abwesend, desorientiert, dumm und zum Teil auch als gleichgültig gegenüber Menschen und egoistisch gelabelt. Beim Sport war ich der letzte, der gewählt wurde. Die Mannschaft, die mich bekam, bekam als „Nachteilsausgleich" noch einen weiteren Spieler dazu. Ich verwechsle Menschen in kürzester Zeit, grüße sie nicht (weil ich sie nicht sehe) oder spreche sie in vollster Überzeugung mit einem falschen Namen an. Mein erstes Erlebnis in dieser Richtung geht auf ungefähr mein 3. Lebensjahr zurück, als ich eine fremde Frau mit meiner Mutter verwechselte. Danach folgten unzählbare gefühlt tägliche Pannen, Verwechslungen, peinliche Situationen, Vorwürfe und Herabwürdigungen.

Aber es kann auch glimpflich und humorvoll abgehen. Gestern fand ich mich in einer lebhaften Unterhaltung mit einer Frau wieder und wir umarmten zur Begrüßung und Abschied. Aber auch im Nachhinein komme ich nicht drauf, wer sie ist, obgleich sie mir sagte, dass wir uns ja immer wieder auf Feierlichkeiten begegnen. Mit meinem neuen Wissen um die Prosopagnosie und die erfolgreich zuvor angelesene und angewendete Smalltalk-Technik musste ich hinterher über die Begegnung auch schmunzeln. Obgleich es gut lief, bleibt mir ein doofes Gefühl zurück: Ich habe im Prinzip voll geschauspielert, in der Hoffnung, sie zu erkennen. Ich weiß bis heute nicht, mit wem ich gesprochen habe. Es wäre doch schön, wenn es nicht peinlich wäre, einfach nachzufragen, um sich dann ohne Versteckspiel zu begegnen.

Was ist mit mir los?

Immer mehr fragte ich mich: Habe ich eine Sehbehinderung, eine Wahrnehmungsstörung oder was ist mit mir los, dass ich Orte nicht wiederfinde und Gesichter mir fremd bleiben? Als ich mich vor Monaten erstmalig mit Gesichtsblindheit beschäftigte, fühlte ich mich nicht angesprochen, weil es dort um Menschen ging, die ihr Spiegelbild und ihre Angehörigen im näheren Umfeld nicht erkannten.

Erst durch Recherchen, unter anderem auf gesichtsblind.de fand ich mich mit meiner Ausprägung wieder. Ein textbasierter Ankreuz-Test, ein Sehtest mit Gesichtern und letztlich die Erfahrungsberichte und -Video`s gaben mir Gewissheit, dass ich zu den bis zu 2 Millionen in Deutschland betroffenen Menschen gehöre. Eine offizielle Diagnose möchte ich mir noch stellen lassen. Euch ein ganz herzlicher Dank für diese Seite. Ich nehme hier viel und freue mich über das Sichtbarmachen von Gesichtsblindheit.

Was ist für mich neu und was habe ich davon? Schließlich hat sich durch die Diagnose an meinem Zustand nichts geändert. Doch! Ich darf nun gewiss sein, dass all die über mich getroffenen Festschreibungen, dass ich zu faul, selbstbezogen, desinteressiert und was sonst noch alles sei, unzutreffend sind und kann diese nun noch entschiedener in die Tonne kloppen. Das Problem ist: Wenn man all diesen Mist quasi mit der Muttermilch aufnimmt, glaubt man ihn schließlich und er wird Teil von einem selbst. Ich kam mir lebenslang wie ein Alien oder Sonderling vor. Es ist viel Arbeit, all diese Festschreibungen und Festlegungen wieder loszuwerden, das neu erworbene Wissen um die Prosopagnosie hilft mir dabei sehr.

Für einen offensiveren Umgang mit meinen Veranlagungen

Ansonsten versuche ich, die u.a. auf dieser Seite genannten Hilfestellungen umzusetzen. Ich versuche, offen mit meiner Sehbehinderung und der Gesichtsblindheit umzugehen und direkt im ersten Kontakt mit Menschen dies irgendwie kenntlich zu machen. In Vorstellungsrunden etc. kläre ich schon seit einiger Zeit über meine Sehbehinderung auf. In Unwissenheit über die Gesichtsblindheit besorgte ich vor 2 Wochen eine dezent gehaltene aber doch gut sichtbare Plakette für Sehbehinderte. Diese werde ich auch weiterhin tragen, weil auf mich beides zutrifft: die Sehbehinderung und die Prosopagnosie.

Ich möchte mit einem etwas offensiveren Umgang mit Sehbehinderung und Prosopagnosie neue Erfahrungen machen. Nämlich die, dass Menschen bereit sind, Vorurteile abzulegen, wenn ich ihnen von vorne herein sage, dass ich nicht gut sehen und Gesichter erkennen kann und dass es passieren kann, dass ich sie nicht wiedererkenne. Danke fürs Lesen.

Von Walter Grimm