Gesichtsblind beim Joggen und Vorsätze für das neue Jahr

Ich biege im Endspurt meiner Joggingrunde gerade in eine andere Straße ein. Es war ein guter Lauf in der kalten Winterluft, der die Lebensgeister geweckt hat. Ich freue mich nun darauf, gleich wieder zu Hause anzukommen.

Draußen ist nicht viel los, nur wenige Menschen sind in meinem Kiez und Umgebung unterwegs. Ein Pärchen mit einem Kinderwagen spaziert mir entgegen. Ich denke mir nichts dabei und jogge an ihnen vorbei.

Beim Vorbeilaufen nehme ich eine Drehung war und höre plötzlich die laute, aufgeregte Stimme des Mannes in meine Richtung:

"EY, BIST DU BLIND?"

Ich bin schon vorbei gelaufen. So schnell kann ich gar nicht reagieren und ich wüsste auch nicht, wie. Bin ich überhaupt gemeint (okay, das ist zumindest sehr naheliegend)?

Wenn ich mich umdrehen würde, erkenne ich die beiden Personen vermutlich nicht und wüsste weiterhin nicht, wer sich da so frech über mich beschwert.

"JA, ist er."

2-3 weitere Sekunden sind vorbei und ich bin einige Meter weiter gejoggt. Jetzt noch umzukehren? Was sollte ich überhaupt sagen? Einfach zurück pöbeln? Oder nachfragen, wen ich vor mir habe (aber nach so einem Spruch...)? Interpretiere ich die Situation falsch?

Ich bin blockiert und jogge weiter.

Zu Hause angekommen, bin ich nervös. Ich ärgere mich über den unverschämten Spruch in meine Richtung. Ein deutliches “Hallo” hätte es schließlich auch getan. Solche Reaktionen entstehen aufgrund von Unwissenheit über meine Gesichtsblindheit. Und da hat sich vermutlich jemand angegriffen gefühlt, das ich ihn nicht gesehen und erkannt habe.

Natürlich bin ich ebenfalls sauer (so schließt sich der Kreis). Ich wäre gerne gelassener. Aber ich hasse solche Situationen, die aus heiterem Himmel entstehen können.


Am selben Tag - beim Nachgrübeln über das Ereignis - kam mir ein Verdacht auf, wer mich da erkannt haben könnte (und ich ihn nicht).

Welche Merkmale konnte ich erfassen? Mann, Frau, Kinderwagen: Das schränkt den Personenkreis schon ein, wobei im nahen Umfeld sehr viele Familien mit kleinen Kindern sind. Die Stimme könnte zu meinem Verdacht vielleicht passen (genau zuordnen konnte ich die Stimme nach dem kurzen Spruch nicht). Viel mehr weiß ich nicht. Meine Frau und ich haben über meine Vermutung gesprochen.

Aber: Der Verdacht hat sich nicht bestätigt. Es muss jemand anderes gewesen sein und ich habe keine Ahnung, wer. Abgehakt.

Mehr Aufklärung über Gesichtsblindheit dringend nötig!

Für mich zeigt dieses und andere Ereignisse eines: wie wichtig der Kampf für mehr Aufklärung über Gesichtsblindheit / Prosopagnosie ist. Es ist zwar nicht so, dass durch Gesichtsblindheit unbedingt etwas Schlimmes passieren muss. Es erzeugt aber Unsicherheit und ist in manchen Situationen mental anstrengend. Denn wer will schon als abweisend, desinteressiert oder arrogant gelten? Stigmatisierung ist nicht weit.

Wie soll ich mit Leuten umgehen, die mir im nahen Umfeld auf der Straße entgegenkommen? Soll ich alle anstarren, um vielleicht ein bekanntes Merkmal zu identifizieren (...mehr über Bewältigungsstrategien im Alltag)? Das würde sicher unangenehm rüberkommen.

Also: Augen geradeaus und weitermachen. Manchmal erkenne ich jemanden, häufig nicht. Das Erkennen hängt zudem immer stark vom Ort ab und ob ich eine bestimmte Person an dem Ort erwarte.

Mehr Gelassenheit, wenn jemand sich anders als erwartet verhält

Ereignisse wie das oben beschriebene machen außerdem nachdenklich über etwas anderes, das tief im Menschen drin steckt: Was passiert, wenn sich jemand auf eine Weise verhält, die nicht den eigenen Erwartungen oder üblichen Normen entspricht (und ich spreche hier nicht von übergriffigem Verhalten, sondern nur von ungewöhnlichem)?

Richtig, es wird ganz schnell negativ ausgelegt oder sogar persönlich genommen und als Angriff gewertet.

Ich bin da keine Ausnahme. Auf gar keinen Fall verhalte ich mich gegenüber anderen immer fair und niemals abwertend. Meine Erfahrungen mit der Gesichtsblindheit machen mir diese schlechte menschliche Tendenz nur etwas mehr bewusst.

Vielleicht schaffen wir es, gelassener zu werden, wenn sich jemand ungewöhnlich und merkwürdig verhält. Es geht ja nicht darum, solches Verhalten (in meinem Fall, dass ich andere aufgrund der Gesichtsblindheit nicht erkenne) toll zu finden, sondern es nicht so persönlich zu nehmen.

Das wäre doch was: Mehr Gelassenheit als Vorsatz für dieses Jahr.

Leichter gesagt als getan, aber einen Versuch wert.

Im nahen Umfeld habe ich bereits einiges an Aufklärungsarbeit über Gesichtsblindheit (insbesondere im Umfeld der Kita meiner Kinder) geleistet. Das hat einiges an Druck für mich rausgenommen. Vielleicht konnte ich sogar die ein oder anderen Menschen erreichen, für die es hilfreich ist.

Aber es reicht noch nicht. Ich will mich erneut überwinden und in der Nachbarschaft für mehr Aufklärung zu dem Thema sorgen. Außerdem habe ich mir das berufliche Umfeld vorgenommen.

Irgendwann hoffe ich zwar, mit dem Thema Gesichtsblindheit für mich persönlich abgeschlossen zu haben.

Aber noch ist es längst nicht so weit. Es geht weiter.

Neues Jahr, neues Glück, gleiches Problem: Ich freue mich, wenn sich andere gesichtsblinde Menschen anschließen wollen, um gemeinsam dafür zu sorgen, dass diese Wahrnehmungsschwäche endlich bekannter wird. Das Kontaktformular ist nur einen Klick entfernt.