Wird Neurodiversität durch radikale Identitätspolitik in die Ecke gedrängt?


Ich bin erst vor wenigen Jahren das erste Mal über den Begriff Neurodiversität gestolpert und war sofort angetan.

Endlich eine große Klammer für all die verschiedenen neurologischen Eigenheiten, die Menschen haben können: Das umfasst nicht nur bestimmte auffällige neurologische Veranlagungen, sondern einfach jede menschliche Ausprägung der eigenen persönlichen Wahrnehmung und Verarbeitung von Eindrücken:

„Every brain is unique as a fingerprint!“

Starke neurologische Abweichungen gehören ebenfalls zur Neurodiversität - von Autismus, Dyslexie über ADHS bis hin zu meiner eigenen Gesichtsblindheit (Prosopagnosie).

Diese auffälligen Abweichungen werden als Neurodivergenzen bezeichnet.
Das Konzept erschien mir als ein riesiger Hebel: Anstatt dass jeder für sich allein um mehr Aufklärung und Anerkennung kämpft, könnten wir unsere Kräfte bündeln, um gemeinsam für mehr Aufklärung zu sorgen. Denn die Erfahrung, von der Norm abzuweichen und die damit verbundene Scham oder das anstrengende Versteckspiel, das kennen viele von uns.

Doch in letzter Zeit sind mir Artikel (hier ein Beispiel) zu dem Thema aufgefallen, die ich problematisch finde. Denn in diesen Artikeln wird ein sehr einseitiges, verengtes Konzept von Neurodiversität vertreten.

Grob zusammengefasst wird behauptet, dass Vertreter des Konzepts der Neurodiversität meinen, dass es nur auf Akzeptanz und Anerkennung ankommt. Medizinische und psychologische Hilfe seien dann nicht mehr notwendig.

Dagegen wird gehalten, dass es Fälle von Betroffenen unterschiedlicher neurologischer Störungen gibt, die darunter stark leiden.
Und dieses Leid lässt sich nicht allein durch mehr Akzeptanz und ein besseres Umfeld ausreichend mindern.
Sie benötigen zusätzlich medizinische und psychologische Hilfe und können bei sehr schweren Behinderungen gar nicht ohne Hilfe leben. Solchen Menschen bringt ein Begriff wie Neurodiversität erstmal nichts.

Ja, stimmt! Warum sollte es auch anders sein?

Selbstverständlich können neurologische Veranlagungen eine medizinische Störung sein, wenn medizinische/psychologische Hilfe benötigt wird.

Nur, ich habe diesen Gegensatz noch nie gesehen, wie er behauptet wird.

Woher diese schwarz-weiß Denke?

Der Kampf für Anerkennung und das Herausstellen positiver Eigenschaften verschiedener neurologischer Ausprägungen heißt nicht, dass es im medizinischen Zusammenhang nicht auch eine Störung sein kann.

Es geht vielmehr um einen umfassenderen Zugang, der einen neuen, besseren, selbstbewussteren Umgang ermöglicht und zudem Potenziale und Stärken herausstellt. Davon haben am Ende alle etwas.

Diese Einseitigkeit hat mich nachdenklich gestimmt.

Erstens werden hier Gegensätze aufgemacht, die nicht sein müssen. Sie sind aus meiner Sicht sogar Blödsinn, die Dinge sind nicht schwarz-weiß.

Zweitens frage ich mich, ob der Begriff Neurodiversität nicht zunehmend wie ein Banner in einem Kulturkampf hochgehalten wird oder zumindest die Gefahr dafür besteht.

Tatsächlich sind meine persönlichen Erfahrungen mit Personen, die sich mit Neurodivergenz beschäftigen, überhaupt nicht so: Wirklich alle haben bisher einen differenzierten Zugang zu dem Thema gehabt.

Trotzdem frage ich mich: Besteht die Gefahr, dass ein ursprünglich hilfreiches Konzept hier seine Kraft verliert, weil es von einer starren Ideologie vereinnahmt wird?

Neurodiversität ist ein Konzept für alle Menschen – auch für solche, die medizinische Hilfe benötigen und wollen

Ich habe mich deshalb weiter im Netz umgeschaut. Meine Bedenken, dass versucht wird, Neurodiversität für eine identitätspolitische Ideologie zu vereinnahmen, sind nicht ganz haltlos.

Aber erst vorweg; Als die australische Soziologin Judy Singer den Begriff in den späten 90er-Jahren populär machte und als eine der ersten nutzte, war ihre Idee revolutionär. Sie wollte eine Alternative zum reinen Defizit-Blick schaffen, der Menschen mit neurologischen Besonderheiten nur als „krank“ oder „gestört“ abstempelt. Inspiriert von der Idee der Biodiversität, argumentierte sie, dass auch eine Vielfalt an Denk- und Wahrnehmungsweisen für eine Gesellschaft wertvoll sein kann.

Singer ist Autistin und ursprünglich ging es bei Neurodiversität um den Autismus.

Recht schnell wurde das Konzept jedoch auf weitere Neurodivergenzen erweitert. Das bedeutet für mich als Gesichtsblinder eine enorme Entlastung. Gesichtsblindheit ist im Vergleich zu vielen Fällen des Autismus sicher nur eine kleinere Abweichung (Hinweis: Gesichtsblindheit gilt tatsächlich als häufige Begleiterscheinung des Autismus).

Aber dennoch: Meine Wahrnehmung funktioniert anders. Und das hat über Jahre zu Unsicherheiten, Anpassungsdruck, Stress und Ängsten geführt. Dieser Perspektivwechsel hilft dabei, Selbstabwertung loszuwerden, Aufklärung zu leisten und Stärken durch die eigenen Erfahrungen zu entdecken. Und nicht zuletzt, Menschen mit anderen Neurodivergenzen als Verbündete zu finden.

Doch Singer ging es nie darum, das eine Extrem durch das andere zu ersetzen.

Sie plädierte für eine Balance, eine Synthese aus der Anerkennung biologischer Realitäten und der sozialen Sichtweise. Es war nie die Absicht, Menschen, die unter ihrer Veranlagung leiden und Hilfe suchen, diese abzusprechen. Es ist doch offensichtlich: Jemand, der stark eingeschränkt ist, braucht mehr als nur gesellschaftliche Akzeptanz. Er oder sie braucht auch handfeste medizinische oder therapeutische Unterstützung. Beides sollte sich nicht ausschließen.

Realitäten anerkennen: NeuroRealismus

Judy Singer hat selbst in Interviews der letzten Jahre gesagt, dass die ursprüngliche Idee zu verwässern und zu einer Art „heile Welt“-Erzählung zu verkommen droht. Aus diesem Grund hat sie kürzlich einen neuen Begriff ins Spiel gebracht: „NeuroRealismus“. Damit meint sie einen realistischen, auf Fakten basierenden Blick, der die tatsächlichen Bedürfnisse von Betroffenen in den Mittelpunkt stellt – egal, ob sie sich selbst als „anders“ oder als „behindert“ sehen.

NeuroRealismus bedeutet anzuerkennen, dass eine „Differenz“ fließend in eine „Behinderung“ übergehen kann. Ein Konzept, das diese Komplexität ignoriert und nur noch eine einzige, positive Deutung zulässt, hilft am Ende niemandem. Es erzeugt eine Fassade, hinter der sich Betroffene mit ihren realen Problemen wieder allein gelassen fühlen.

Berechtigte Kritik oder wird Judy Singer von einer ideologischen Blase an den Rand gedrängt?

Die Debatte wird aber noch komplizierter. Ausgerechnet Judy Singer, die das alles ins Rollen gebracht hat, wird heute von Teilen der von ihr mitbegründeten Bewegung scharf kritisiert und an den Rand gedrängt. Die Gründe dafür sind vielschichtig. Zum einen gibt es Streit darüber, ob sie den Begriff wirklich allein „erfunden“ hat oder ob er nicht vielmehr kollektiv in Online-Communitys entstanden ist. Es gibt Forderungen, sie aus der Geschichte rundum Neurodiversität zu entfernen, zu canceln.

Der Hauptgrund für die Angriffe scheint mir zu sein, dass sie sich kritisch zur aktuellen Debatte um Transgender geäußert hat und deshalb als transphob bezeichnet wird

Ich will da jetzt nur kurz einsteigen, weil es zu weit weg vom Thema dieses Blogs führt und ihren Standpunkt zusammenfassen:

Sie plädiert dafür, neue Geschlechterkategorien für Transfrauen/Transmänner zu schaffen, anstatt dass jeder sich beliebig eine bestehende Kategorie (Mann/Frau) aussuchen kann.

So, wie es in einigen Ländern bereits drei Geschlechterkategorien (Divers als drittes Geschlecht in Deutschland) gibt, würde es noch zwei weitere geben. Die Idee leitet sie aus biologischen Gründen, der jüdischen Tradition und Erfahrungen anderer Kulturen (in denen es traditionell mehrere Geschlechterkategorien gibt) ab und wird hier von ihr erläutert. Für mich erstmal ein plausibler Standpunkt, der von anderen selbstverständlich kritisch hinterfragt werden kann.

Was ist daran nun transphob? Sie spricht Transpersonen keineswegs ihre Bedürfnisse und ihren Wunsch nach Anerkennung ab. Man kann ihre Idee zwar lautstark ablehnen, für falsch halten und etwas anderes fordern.

Aber die Reaktionen gehen viel weiter und lassen ein problematisches Verhältnis zur Meinungsfreiheit erkennen.

Wird hier von einer kleinen radikalen Gruppe versucht, das ganze Werk einer Person zu verunglimpfen, weil sie abweichende Meinungen in einer ganz anderen Sache vertritt?

Der Mechanismus, der darauf folgt, ist bezeichnend: Anstatt über die strittigen Punkte zu debattieren, wird versucht, sie komplett aus dem Diskurs auszuschließen. Ihre Kritiker argumentieren, dass sie durch ihre Äußerungen ihre Plattform missbrauche und man ihr deshalb die Deutungshoheit über den von ihr geprägten Begriff der Neurodiversität entziehen müsse. Das ist ein klassisches Muster der radikalen Identitätspolitik: Wer nicht auf Linie ist, wird zur Persona non grata erklärt.

Zu Diversität gehört Meinungsvielfalt

Und hier schließt sich für mich der Kreis. Wenn eine Bewegung, die „Diversität“ im Namen trägt, keine Meinungs- und Meinungsverschiedenheit aushalten kann, dann verrät sie ihre eigenen Ideale.

Deshalb müssen wir darauf achten, dass ein breitgefächertes Verständnis von Neurodiversität erhalten bleibt. Sich als neurodivergent einzuordnen und medizinische Hilfe (mitsamt der Einordnung als Störung, um Zugang zu Therapien zu erhalten) schließen sich nicht aus.

Wenn wir die große Mauer der Scham einreißen wollen, die viele neurologisch divergente Menschen umgibt, darf es keine Verengung geben!

Erst recht darf Neurodiversität kein Konzept sein, das mit einer bestimmten politischen Richtung verbunden ist. Wir müssen aus meiner Sicht gegen eine solche Vereinnahmung mit aller nötigen Konsequenz angehen und ein breites Konzept vertreten, ohne identitätspolitische Spaltung.

Die Idee der Neurodiversität ist für alle da, ob links, konservativ oder was anderes.

Für die Vision einer besseren und inklusiven Gesellschaft sind solche ideologischen Grabenkämpfe pures Gift. Unser Ziel ist es, Brücken zu bauen, Unwissen abzubauen und den Dialog zu fördern. Das geht nur in einem Klima der Offenheit, in dem auch schwierige und kontroverse Themen respektvoll, aber ohne Denkverbote diskutiert werden können.

Für mich persönlich bleibt das Konzept der Neurodiversität eine hilfreiche Klammer, um Gemeinsamkeiten mit Menschen zu entdecken, die andere, aber eben doch verwandte Erfahrungen machen. Es hilft mir, meine eigene Situation besser einzuordnen, mehr Aufklärung zu betreiben und neue Kontakte zu knüpfen. Inwieweit dieses Konzept für jeden hilfreich ist, muss jeder für sich selbst entscheiden dürfen, ohne dass ihm oder ihr eine bestimmte Haltung aufgezwungen wird.


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